Dr. Ahmet Boyacıoğlu

Leiter des Internationalen Golden Orange Filmfestivals Antalya Künstlerischer Leiter „Festival On Wheels“

Ahmet Boyacıoğlu ist ein wahrer Tausendsassa im Dienste der Filmkultur. Mit seinem unermüdlichen Einsatz und seinem Team beim “Festival On Wheels” konnte die Kinokultur in vielen Provinzstädten der Türkei wieder Fuß fassen. Als Organisator der türkischen Festivalpräsenz in Cannes und auf der Berlinale  ermöglichte er vielen türkischen Filmen den Zugang zum internationalen Filmmarkt. Und als türkischer Vertreter im Förderprogramm Eurimages für länderübergreifende internationale Filmproduktionen profitierten viele Filmemacher von seinem Engagement nachhaltig - nicht nur aus der Türkei , sondern auch  aus allen anderen europäischen Ländern. Dank der Initiative von Herrn Boyacıoğlu und seines Cineasten-Vereins Ankara wird die europäische Kultur in der Türkei mit Arthouse-Filmen aus Europa präsentiert.

Dr. Ahmet Boyacıoğlu erhält den Ehrenpreis des Festivals für sein langjähriges Engagement für den bidirektionalen internationalen Austausch im europäischen Raum durch das Kino und  damit auch für seinen Einsatz für die Entstehung der gesamteuropäischen Identität mit Inklusion der Türkei.

Herr Boyacıoğlu wird den Ehrenpreis am Eröffnungsabend entgegen nehmen.


 

Ahmet, wir kennen dich seit über 25 Jahren und immer überraschst du uns mit einer neuen Aufgabe im Bereich der Filmkultur. Jetzt leitest du das traditionsreichste Filmfestival der Türkei, das Golden Orange Filmfestival in Antalya. Als Marketingchef der türkischen Filmindustrie bei den Festspielen in Cannes oder Berlinale, als Vertreter der Türkei bei Eurimages in Straßburg oder als Filmproduzent und auch als Kinofilmregisseur bist du einer der Aktivposten des türkischen Films. Was hat dir am meisten Spaß gemacht?

Boyacıoğlu: Meine Arbeit im Schnittraum. Ich liebe es. Es ist wie mit einer Beziehung zu den Großeltern. Großeltern lieben ihre Enkelkinder und überlassen die Erziehung den Eltern. Sie haben nicht viele Aufgaben. Das Schneiden eines gut gedrehten Films ist eine wirklich angenehme Arbeit. Und es ist ein tolles Gefühl, wenn ein Film ausgezeichnet wird, an dessen Schnitt man mitgewirkt hat. Ich habe mehr als 10 Filme bearbeitet. Da der Cutter der Feind des Regisseurs ist, bin ich immer im Hintergrund, ein Geister-Cutter.

 ... und wann sehen wir dich als Schauspieler?

Boyacıoğlu: Das habe ich auch ausprobiert, mit einer Rolle im Eröffnungsfilm von euch aus dem letzten Jahr. In „Anons“ von Mahmut Fazıl Coşkun gibt es am Anfang des Films eine dreiminütige Szene. Ein deutscher Arzt untersucht einen angehenden Gastarbeiter, der sich Anfang der 1960er-Jahre für Deutschland beworben hatte. Sie boten mir wohl diese Rolle an, weil ich Mediziner bin, Deutsch sprechen kann und vor allem, weil ich keine Gage verlangt habe. Das muss die Produzenten überzeugt haben.

Hat es auch Spaß gemacht?

Boyacıoğlu: Na ja, ich habe die ganze Nacht warten müssen, bis ich mit meiner Aufnahme so gegen 6:30 dran war. Ich glaube aber, dass sie zufrieden waren. Ich bin einfach prädestiniert für alle Rollen mit Deutschen und Ärzten.

Eurimages ist ein gesamteuropäisches Projekt und fördert europäische Gemeinschaftsproduktionen. Du hast dort viele Filmproduktionen aus der Türkei mit Erfolg vertreten, damit diese eine finanzielle Unterstützung zu bekommen. Wie erfolgreich ist denn aus deiner Sicht diese Initiative, wodurch eine Art europäische Filme entstehen sollen, die eine europäische kulturelle Identität bilden?

Boyacıoğlu: Eurimages ist eine Einrichtung des Europarates und fördert Koproduktionen. Es hilft der Präsenz eines Films, wenn er viele Müter und Väter, Onkel hat. Die Förderung eines Films durch Eurimages sollte man nicht nur aus finanzieller Sicht sehen. Neben dem Aspekt, dass Eurimages die gesamteuropäische Identität vertritt und zu deren Entstehung beiträgt, ist es auch ein Label mit hoher Bedeutung. Ein von Eurimages geförderter Film hat auf dem Markt automatisch einen höheren Wert. Als Vertreter der Türkei in der Eurimages-Kommission habe ich viele Leute kennengelernt. Es war für mich eine ganz besondere Zeit.

Ist denn Eurimages wirklich bei der Entstehung der europäischen Identität hilfreich?

Boyacıoğlu: Dieses Thema ist heikel... Wie viele gute Filme dadurch entstanden sind, kann diskutiert werden. Aber, die Künstlerinnen und Künstler sind für die Koproduktionen zwischen den Ländern gefördert worden. Das war für die junge Generation schon ein wunderbarer Schritt nach vorne.

Warum sollte die Türkei bei Eurimages mitmachen? Geld zahlen für europäische Kultur?

Boyacıoğlu: Na ja, will man auf der Bank sitzen und zuschauen oder mitspielen?! Die Türkei ist kein Mitglied der EU und bekommt von Creative Europe keine Förderung. Das macht Eurimages für die Türkei noch attraktiver. Man muss schon mitten im Spiel sein.

Wenn in Europa so ein Projekt wie Eurimages bei der Entstehung und Weiterentwicklung einer europäischen Identität eine Rolle spielt, dann muss die Türkei dabei sein. Eine europäische kulturelle Identität, bei der die Türkei nicht mitwirkt, ist für mich unvorstellbar. Auch, wenn die Türkei nicht ein Teil der EU ist. Allein durch die in Europa lebenden Türken, deren Gesamtzahl gleich ein paar EU Länder ausmachen würde, ist die türkische Kultur präsent. Die Türkei ist nicht so weit weg wie manche in der EU denken. Wir sind sehr nah. Es gibt doch einen Filmtitel von Wim Wenders:”In weiter Ferne so nah”.

Das Mobile Filmfestival: Du wirkst ja auch als künstlerischer Leiter in einem Mobilen Filmfestival mit, bei dem ihr an entlegenen Orten in der Türkei viele europäische Filme präsentiert habt. Wie waren denn die Reaktionen auf die „Europa-Filme“, zum Beispiel von Bürgern aus Kars, im tiefen Osten Anatoliens? Haben europäische Filme dort eine Chance?  

Boyacıoğlu: Das Mobile Filmfestival haben wir im Jahre 1995 gestartet. Zu der Zeit gab es weltweit kein vergleichbares Projekt. Zumindest haben wir es nicht gekannt. Unser Ziel war es, in anatolischen Provinzstädten Filme zu zeigen. Es war schon eine Höllenarbeit mit den ganzen 35mm-Kopien, die zwischen 20 und 30 kg wogen. Die engsten Freunde haben uns gesagt, Ihr hört nach ein paar Jahren auf, allein wegen der Rückenprobleme. Aber das positive Feedback und die große Gastfreundschaft der Bürger in diesen Städten haben uns motiviert, das Projekt weiterzumachen. Wir waren bis heute in 23 Städten und sogar in fünf Ländern. Letztes Jahr feierten wir unser 26. Jubiläum.

 … Wie war das noch mal mit den europäischen Filmen z.B. in Kars ...

Boyacıoğlu: ... Als wir das erste Mal nach Kars fuhren oder nach Artvin gab es keinen Kinosaal. Den 35mm-Projektor haben wir mitgebracht. Sowohl das Publikum in Kars als auch in Bursa haben diese Initiative ins Herz geschlossen. In Kars haben wir an der Uni Filmseminare organisiert. Ja, Kars wurde zum Drehort vieler Kinofilme. Leider mussten wir diese Projekte nach dem politischen Wechsel der kommunalen Verwaltung, sowohl in Kars als auch in Bursa aufgeben. Willkommen in der Realität der Türkei.

Aber an eine Geschichte mit Filmen aus Europa erinnere ich mich immer wieder. Wir waren in Artvin. Aus einer Bruchbude haben wir einen funktionieren Saal gemacht. Mit unserem 35mm-Projektor war das dann unser Kino. Lars von Triers Film “Europa” war im Programm. Komplett ausverkauft, kein einziger Stuhl blieb frei. Da saß doch eine Tante mit Kopftuch, die etwas strickte, sie hatte bis zum Schluss großen Gefallen an dem Film. Stell dir vor, dieser Saal ist jetzt tatsächlich ein Kinosaal mit laufendem Programm.

Nach fast 30 Jahren der Arbeit für das türkische Kino hast du immer eine internationale Perspektive auf den türkischen Film eingenommen. Hat sich die türkische Filmindustrie tatsächlich nach außen geöffnet?

Boyacıoğlu: Im Kinobereich brauchst du für den Erfolg auch eine starke Wirtschaft. Leider hat die Türkische Lira in letzter Zeit groß an Kraft verloren, sodass die Budgets der Filme sehr negativ beeinflusst wurden. Noch wichtiger, Koproduktionen sind viel schwieriger geworden. Das ist einer der Gründe, warum in letzter Zeit Filme mit kleinen Budgets gedreht werden, die sich mehr auf die Darstellung persönlicher Probleme konzentrieren. Ich bin dennoch hoffnungsvoll, was die Zukunft angeht. Jedes Jahr entstehen Filme von sehr jungen unbekannten Regisseuren. Das ist irre und auch aufregend.   

 Als Filmregisseur und als Produzent hast du auch die kreative und die produktive Seite der Filmbranche kennengelernt. Alles finanziell gesehen riskante Projekte. Was reizt dich denn dazu?

Boyacıoğlu: Als ich meinen Debütfilm im Jahre 2009 drehte, habe ich den anderen Mitproduzenten gesagt: ”Sind wir bereit, pro Kopf 150 000 Lira Verlust zu machen?”. Ich weiß nicht warum  sie “Ja” sagten. Als der Film fertig war, hatten wir diesen Verlust auch gemacht. Dafür kannst du aber niemandem einen Vorwurf machen. Wir hatten das Budget beschlossen. Jetzt sage ich, zum Glück haben wir den Film schwarzweiß gedreht. Wenn du eine Geschichte zu erzählen hast, dann musst du auch den Film dazu drehen. Man sagt ja so schön, wer vernünftig ist, dreht auch keine Filme. Man muss schon verrückt sein, um Filme zu machen. Das ist eine der Lehren, die ich von Tuncel Kurtiz gelernt habe.

Kommen wir zum  großen Golden Orange Filmfestival Antalya, das in diesem Herbst zum 59. Mal stattfinden wird. In welche Richtung entwickelt sich das Festival?

Boyacıoğlu: Antalya war immer der Ort, an dem das Herz des nationalen Kinos der Türkei schlug. Als im Jahre 2017 die damalige Stadtverwaltung  den nationalen Wettbewerb abgeschafft hat, gab es einen Proteststurm. Manche sagen, dass der Oberbürgermeister Menderes Türel von der AKP auch deswegen die Wahlen verloren hat. Alle Länder müssen in erster Linie ihr nationales Kino wertschätzen. Schau dich doch um, in Cannes laufen immer mehr französische Filme, in Berlin nimmt die Anzahl der dort präsentierten deutschen Filme zu. Auch wir in Antalya müssen dem nationalen Kino die Priorität geben. Natürlich haben wir auch einen internationalen Wettbewerb. Aber die Hauptattraktion war und ist der nationale Wettbewerb. Seit 2019 laden wir zu unserem Festival über 150 junge StudentInnen von verschiedenen Universitäten der Türkei mit dem Schwerpunkt Kino, Medien und Fernsehen ein. Die Hoffnung liegt in der Jugend. Mit dem Antalya Film Forum fördern wir auch Spiel- und Dokumentarfilmprojekte.

In den letzten Jahren haben wir die Pandemie gut überstehen können, da wir sehr viel Open AirKino anbieten konnten, anstatt Filme virtuell anzubieten. Das ist auch eine der Besonderheiten oder Schönheiten von Antalya.

Deutschland braucht viele Ärzte. Hättest du wieder Lust als Arzt einzusteigen?

Boyacıoğlu: Ach, ich bin immer ein Doktor. Es gab mal Zeiten als ich in jedem zweiten Flieger bei einem Kranken eingreifen musste und meiner Verwandtschaft muss ich immer per Tele-Medizin helfen... Auch auf den Festivals bin ich immer wieder als Arzt gefragt. Euer Festival hatte doch einen Spruch “Filme anschauen bis der Arzt kommt”. Bei mir sagen sie scherzhaft, “Filme anschauen bis der Doktor geht”.